TalkBack und Samsungs Voice Assistant im Vergleich

11. März 2016

Nexus 4 und Samsung Galaxy S6

Autor: Umair Wiebeck

Aktualisierung: 16. März 2016

Mit Voice Assistant bietet Samsung eine veränderte Variante des Android-Screenreaders TalkBack an. Was sind die Unterschiede? Hat Samsung das bessere TalkBack? Wir haben Voice Assistant auf dem Galaxy S6 mit Talkback 5.1 Lollipop auf dem Nexus 4 verglichen.

Android ist das mobile Betriebssystem von Google, das mit Ausnahme von Apple die meisten Smartphone-Hersteller in ihren Produkten nutzen. Android hat einen eingebauten Screenreader namens TalkBack, der alle Inhalte als Sprache ausgibt. Nicht immer jedoch sind die "Skins", also die abgewandelten Android-Oberflächen der Smartphone-Hersteller, so beschaffen, dass TalkBack gut nutzbar ist, wie ein Vergleich von Skins gezeigt hat – hier war zum Beispiel bei Sony die virtuelle Tastatur gar nicht mit TalkBack nutzbar und viele Standard-Apps der Hersteller waren schlecht oder gar nicht zugänglich.

Abweichungen vom Standard-TalkBack gibt es aber auch in positiver Richtung. Ein Hersteller, Samsung, hat sich besonders ins Zeug gelegt, um die Nutzung von Android gegenüber Googles Standard-Version zu verbessern. Es sind unter anderem andere und vereinfachte Gesten verfügbar. Samsung hat auf dem aktuellen Galaxy S6 TalkBack kurzerhand in "Voice Assistant" umbenannt.

Ein abweichendes Navigationskonzept

Ein wichtiger Unterschied bei der Wischgesten-Navigation ist das unterschiedliche Navigationskonzept bei Samsung. Samsung Smartphones haben alle eine mittige, physische Home-Taste am unteren Rand, genau wie das iPhone. Nur gibt es bei Samsung noch zwei weitere (allerdings nicht taktile) Tasten links und rechts von der physischen Home-Taste. Beim Galaxy S6 sind die Funktionen, links nach rechts: Aktuelle Anwendungen | Home-Taste | Zurück.

Das Standard-Android-Interface (getestet haben wir Android 5.1 Lollipop auf einem Google Nexus 4) nutzt virtuelle Navigationstasten am unteren Bildschirmrand (von links nach rechts: Zurück | Home-Taste | Übersicht). Diese virtuellen Tasten werden von den Wischgesten fokussiert. Sobald man sie erreicht hat, durchläuft der Fokus nur noch diese drei Tasten - will man zu den Inhalten, muss der Fokus durch ein Tippen auf eine andere Stelle des Bildschirms versetzt werden.

Bei der Wischgesten-Navigation auf Samsungs Galaxy S6 erreicht der Fokus dagegen die "ausgelagerten" Navigationstasten nicht, sondern bleibt bei den Elementen der jeweiligen App. Das ist vorteilhaft. Durch die bekannte Position am unteren Rand sind die festen Tasten gut nutzbar.

Etwas schade ist, dass die Taste für das Kontextmenü, mit dem man unter anderem Ordner erstellen konnte, beim Galaxy S6 nicht mehr verfügbar ist. Stattdessen kann man jetzt zu anderen geöffneten Apps navigieren oder diese schließen.

Aktualisierung vom 16.3.2016: Ein Problem, auf dass uns ein Android-Nutzer hingewiesen hat (siehe Kommentare unten): Firefox für Android bietet ebenfalls Drei-Finger Wischgesten für die Navigation zwischen Inhaltselementen (Überschriften, Listeneinträgen usw.). Diese Gesten kollididieren mit den Voice-Assistant-Gesten und sind nicht verfügbar. Firefox ist deshalb mit Voice Assistant nicht nutzbar - auch die Einfinger-Wischgeste zum Durchlaufen der Elemente und die Berührungserkundung funktionieren nicht. Der Browser Chrome wird jedoch gut unterstützt – die vertikale Dreifinger-Wischgeste bieten hier die Navigatonsmöglichkeiten "Durch Abschnitte navigieren", "Durch Listen navigieren" und "Durch Webseitensteuerelemente navigieren".

Leichtere Aktivierung des Screenreaders

Für blinde Nutzer ist die physische Home-Taste beim Galaxy S6 schon dadurch hilfreich, dass mit ihr, genau wie beim iPhone, durch Dreimal-Drücken der Screenreader ein- und ausgeschaltet werden kann. Das ist ein großer Fortschritt. Auf sonstigen Android-Geräten lässt sich TalkBack zwar über die Einstellungen ausschalten, aber erst bei einem Neustart recht umständlich wieder aktivieren.

Ein Problem: Die S6-Kamera-App lässt sich über zweimaliges Drücken der Home-Taste aktivieren. Das macht die Nutzung des dreimaligen Drückens zum An- und Ausstellen des Screenreaders schwieriger. Einfacher wird es, wenn der Kurzbefehl zum Aufruf der Kamera deaktiviert wird.

Töne bei der Benutzung

Eine ganz große Veränderung ist, dass die Töne von Voice Assistant leiser sind als bei TalkBack. Das macht die Navigation etwas angenehmer - die Töne sind nicht so laut und aufdringlich wie sonst bei TalkBack. Die genutzten Töne sind ein Ticken oder leise Piep-Töne.

Die Samsung-Gesten

Hilfe zum Gesten-Lernen

Voice Assistant lässt sich beim Samsung S6 unter Einstellungen, Eingabehilfe, Sehhilfe, Einstellungen konfigurieren. Direkt unter dem Eintrag "Voice Assistant" befindet sich ein neuer Eintrag, der sich "Hilfe zu Voice Assistant" nennt. Wie bei iOS kann man hier die Voice-Assistant-Gesten vor dem Betrieb üben. Hier finden sich Gesten, die eine Ähnlichkeit zu iOS aufweisen bzw. von iOS inspiriert sind. Bei Standard-Android gibt es auch eine Übungsfunktion, die allerdings unter Bedienungshilfen > TalkBack > Einstellungen > Anleitung "Tippen und Entdecken" etwas versteckt ist.

Gestisches Einstellen von Optionen

Streicht man unter Voice Assistant mit 3 Fingern von links nach rechts, werden folgende Optionen sichtbar: Gerätelautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Satzzeichen, Ausgeschalteter Bildschirm und Großer Cursor. Vertikales Wischen ändert dann die jeweils auswählbaren Werte. Das ähnelt sehr dem VoiceOver-Rotor beim iPhone. Samsungs Dreifinger-Geste zum Aufruf ist sogar einfacher als die komplexe Drehgeste zum Aufruf des Rotors. Beim Standard-Android muss dagegen für die Änderung solcher Optionen tief in die Talkback-Einstellungen abgetaucht werden.

Mit der Option "Ausgeschalteter Bildschirm“ kann man den Bildschirm abschalten, damit man z.B. als blinder Nutzer ein Passwort eingeben kann, ohne dass einem ein Sehender über die Schulter schauen kann. Die Option ist im Prinzip ähnlich wie der Bildschirmvorhang bei iOS, er ist nur anders benannt. Beim Standard-Android muss man beide Lautsprechertasten gleichzeitig drücken, um den Bildschirm zu dimmen, was deutlich umständlicher ist – schon weil man das Gerät anders halten muss, um diese Aktion erfolgreich auszuführen.

Gestische Kurzbefehle für die Ausgabe

Samsung hat mit dem Voice Assistant eine Reihe von Gesten eingeführt, die das Lesen und Zugreifen auf Informationen erleichtern:

  • Wie bei iOS kann man auch beim Galaxy S6 mit einer kurzen Berührung des Bildschirms mit zwei Fingern die Sprachausgabe pausieren oder fortsetzen.
  • Tippt man mit zwei Fingern dreimal auf den Bildschirm, wird von Voice Assistant die Statuszeile vorgelesen. Diese Geste wird beim Samsung Note 3 und beim Nexus 4 nicht unterstützt.
  • Tippt man beim Galaxy S6 mit drei Fingern einmal auf dem Bildschirm, wird der Text vom Anfang der Seite gelesen. Beim Standard-Talkback ist dafür der Aufruf des globalen Kontextmenüs notwendig (L-Geste).
  • Tippt man mit drei Fingern zweimal auf dem Bildschirm, wird der Text vom nächsten Element an gelesen.
  • Tippt man schließlich dreimal mit drei Fingern auf dem Bildschirm, wird der zuletzt ausgewählte Text buchstabiert und in die Zwischenablage kopiert. Beim Standard-Talkback werden diese Gesten nicht unterstützt.

Gesten zum Einstellen des Lesemodus

Beim Standard-TalkBack ruft eine komplexe Geste, ähnlich einem umgedrehten L, ein Kontextmenü auf, mit dem man dann die Leseeinheit einstellen kann, um wahlweise zeichenweise, wortweise oder absatzweise zu lesen. Bei Voice Assistant ist das viel einfacher: Wenn man mit 3 Fingern nach oben oder unten streicht, kann man zwischen zeichenweisem, wortweisem, zeilenweisem oder absatzweisem Lesen schnell und effektiv umschalten. Hat man eine Leseeinheit gewählt, kann man mit einem Wischen mit einem Finger nach oben oder unten die Aktion auslösen, also zum Beispiel zeichenweise lesen. Voice Assistant buchstabiert dann das Element. Interessant dabei ist, dass man trotzdem normal mit der horizontalen Wischgeste navigieren kann, ohne dass die Leseeinheit verändert wird.

Gesten zum Auswählen, Kopieren und Einfügen von Text

Das gestische Auswählen, Kopieren und Einfügen von Text ist unter dem Standard-TalkBack sehr umständlich. Hier läuft alles über das lokale Kontextmenü, das sich über die umgedrehte L-Geste öffnen lässt. Soll etwa ein Stück Text aus einem Eingabefeld kopiert werden, muss man zuerst das Kontextmenü öffnen und darin „Cursorsteuerung“ und dann "Alles markieren" auswählen. Der Fokus springt danach aber ins Eingabefeld zurück. Erneut muss man das Kontextmenü aufrufen und dann nach Auswahl der Cursorsteuerung "Kopieren" auswählen.

Beim Galaxy S6 aktiviert man den Auswahlmodus durch ein leichtes Doppeltippen-und-Halten mit zwei Fingern. Die Berührung muss man eine Weile üben, sonst können versehentlich Buchstaben der virtuellen Tastatur berührt und damit geschrieben werden. Bei Aktivierung des Auswahlmodus gibt es auch ein Vibrationsfeedback. Ein simples Wischen mit 2 Fingern nach unten markiert nun den Text im fokussierten Feld. Kopiert wird er, wenn man nun mit zwei Fingern nach oben wischt. Ähnliche Gesten gibt es für das Ausschneiden (mit 2 Fingern nach links wischen) und das Einfügen (mit zwei Fingern nach rechts wischen). Alle Aktionen werden durch Vibration und Sprache begleitet.

Erstellen von Ordnern

Wie beim iPhone kann man beim S6 Ordner erstellen, indem man die Symbole auf ein anderes Symbol verschiebt. Das ist jedoch bei Samsung für nicht-visuelle Nutzer sehr schwierig, da Voice Assistant das Ziel-Symbol (etwa den App- oder Ordner-Namen) nicht wie beim iPhone während des Verschiebens ansagt. Die Sprachausgabe sagt nur die Zeile und Spalte an. Beim Samsung Note 3 ist das besser gelöst: Hier kann man über die feste Kontextmenü-Taste Ordner erstellen, Ordnernamen eingeben und die zu verschiebenden Anwendungen per Kontrollfeld auswählen.

Vereinfachtes Umbenennen von Schaltflächen

Eine gute Funktion bei Voice Assistant ist, dass man mit einer Geste (mit drei Fingern zweimal tippen) unbenannte Schaltflächen benennen kann. Da haben mit Zahlen beschriftete Schaltflächen keine große Chance mehr, dem Nutzer auf die Nerven zu gehen. Beim Standard-TalkBack geht das auch über das lokale Kontextmenü, ist aber umständlicher.

Fazit

Viele Gesten beim Samsung Galaxy S6 erleichtern Nutzern den Alltag mit dem Gerät. Immer wieder hat man den Eindruck, dass einige Gesten vom iOS-Betriebssystem inspiriert sind. Dies ist in keiner Weise negativ gemeint. Schön ist, dass man das lokale Kontextmenü nicht mehr aufrufen muss, um Leseeinheiten einzustellen. Auch Text kopieren, ausschneiden und markieren geht auf dem Samsung Galaxy sehr viel leichter.

Nicht-visuelle Android-Nutzer, die den Firefox-Browser mit seinen speziellen Dreifinger-Navigationsgesten nutzen möchten, sollten um Geräte mit der Samsung-Sprachausgabe Voice Assistant allerdings einen Bogen machen, denn die Sprachausgabe wird wegen Konflikts mit Samsungs Dreifinger-Gesten nicht unterstützt.

Alles in allem kann man sagen, dass Samsung auf einem guten Weg ist und man das Samsung Galaxy S6 als eine Empfehlung neben dem iPhone aussprechen kann. Trotz dieser positiven Eigenschaften darf man nicht vergessen, dass das Betriebssystem Android noch einen weiten Weg hat, um mit der Zugänglichkeit des iOS-Betriebssystems gleichzuziehen.